Das "Ich" als ruhender Pol in unruhigen Zeiten

Anlässlich des 5. Alexianer-Symposiums gab Philosoph Prof. Dr. Richard David Precht den rund 160 Experten aus dem Kinder- und Jugendbereich wertvolle Impulse für ihre tägliche Arbeit. Foto: M. Bok

Philosophische Impulse für rund 160 Experten aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie beim 5. Alexianer-Symposium:

Eine „Themenbetrachtung ohne fachliche Gewähr“ lautete die Umschreibung, mit welcher der prominente Gastredner, Philosoph und Bestsellerautor Prof. Dr. Richard David Precht beim 5. Alexianer-Symposium seinen Vortrag vor knapp 160 Experten aus der Kinder-und Jugendpsychiatrie vorab in etwas bescheidener Manier ankündigte: „Das liegt daran, dass die Philosophie eigentlich für nichts so richtig kompetent ist."                                                   

Was Gastgeber Dr. Christopher Kirchhoff und seine Zuhörer im vollbesetzten Kunsthaus-Saal dann aber in den folgenden 75 Minuten zur „Entwicklung des 'Ich' im modernen sozialen Umfeld“ zu Gehör bekamen, enthielt allerdings ungleich viele wertvolle Impulse für die in ganz unterschiedlichen Berufsgruppen tätigen Kinder- und Jugendexperten.

In einem komplexen Streifzug durch die Epochen und Erkenntnisse der großen Philosophen markierte Precht dabei zunächst sehr ausführlich die philosophische Betrachtung und Entwicklung des 'Ich', um am Ende festzuhalten: „Wir haben, vor allem geprägt durch die industrielle Revolution und aufkommende bürgerlichen Gesellschaft sehr lange gebraucht, bis das 'Ich' mitsamt seiner heute grundrechtlich geschützten Menschenwürde und Persönlichkeit zu dem stabilen 'Ich' geworden ist, das es jetzt ist."
 
Doch er mahnte: „Umso mehr müssen wir heute im Zeitalter der rasanten Entwicklungen von künstlicher Intelligenz und stetigem Wandel auf unser 'Ich' aufpassen: Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der wir uns ständig selbst neu erfinden und definieren sollen, Flexibilität,  Anpassungsfähigkeit sowie echte, digitale, anonymisierte und damit bis zu drei Identitäten die Maximen sind – das kann gerade junge Menschen schnell überfordern."

Mit weiteren grundlegenden Betrachtungen des Menschen heute, seiner Rolle in der Bedarfsweckungsgesellschaft und im Kontext der Digitalisierung als nächste große Revolution skizzierte Precht eine Standortbestimmung unserer Spezies in unruhigen Zeiten: „Während wir uns früher als 'das Andere' gegenüber den Tieren und der Natur definierten, betrachten wir uns heute mitsamt Tier und Natur als das Andersartige gegenüber der künstlichen Intelligenz." Doch auch wenn diese – angefangen vom autonomen Fahren bis hin zur Fähigkeit, Emotionalität zu simulieren – schon erschreckend Vieles kann, bleiben aus Sicht Prechts die ureigenen menschlichen Fähigkeiten stets digital unantastbar. Und viele Ideen aus dem Silicon Valley entpuppten sich eben doch nicht als gutes Geschäftsmodell.                                 

Für Precht ist daher klar: „Wir werden eine starke Aufwertung der Empathie- und auch Handwerker-Berufe erfahren, auf der anderen Seite wird es aber auch eine Welle der Entlassungen in anderen Berufssparten geben. Apropos Arbeitswelt: „Arbeitszeiten und auch die Definition des 'Ich' über Arbeit werden sich weiter reduzieren." Die spannende Frage bliebe, wie wir die Menschen auffangen, die sich dann „wertlos“ fühlten.

Und wie können wir oder auch unsere Kinder uns für diese revolutionären Zeiten gut wappnen? , lauteten Fragen aus dem Publikum. Getreu dem Motto „Viel Wind von unten steuert den Drachen“  sollten wir mit Authentizität und für uns Menschen sinnstiftend die digitale Welt und den Wandel gestalten, empfahl der Philosoph. Und gerichtet an die junge Generation, bevor er mit viel Applaus an den Büchertisch entlassen wurde, lautete sein Rat:  „Lass' Dir das, wofür Du brennst, auf Deinem Lebensweg von nichts und niemanden vermiesen.“ 

Unter dem Oberthema „Ich – Du – Wir – Ihr – Leben und Persönlichkeitsentwicklung in sozialen Gruppen“ brach Prof. Dr. Christoph Möller im zweiten Vortrag eine Lanze für die gruppentherapeutische Arbeit.