Radikalisierung findet langsam statt. Rückzug, die Suche nach Antworten und Zugehörigkeit, das Gefühl, verstanden werden zu wollen. Menschen, die für diese Tendenzen empfänglich sind, können im Extremismus eine Heimat finden. Wie Radikalität und Extremismus online funktionieren und wie es gelingen kann, in diesem Prozess Zugang zu Jugendlichen zu finden und ihre Resilienz zu stärken, war Thema des Fachtags „Immer mehr TikTok, immer radikaler“ auf dem Alten Hof Schoppmann in Nottuln-Darup.
Strategien, den Herausforderungen der Radikalisierung zu begegnen
Der NRW Verfassungsschutz erklärt in seinem aktuellen Bericht von April, dass immer mehr junge Menschen in den Fokus von Extremisten geraten und Radikalisierung zunehmend online stattfindet, besonders über Social-Media-Plattformen. Hier setzte die Fachtagung an, zu der die Beratungsstelle „Wegweiser – Stark ohne islamistischen Extremismus“ für die Kreise Borken und Coesfeld und die Regionale Schulberatungsstelle im Kreis Coesfeld geladen hatten.
90 Teilnehmende aus der (Schul-)Sozialarbeit, aus Jugendämtern und der Jugendhilfe der Kreise Borken und Coesfeld nahmen teil. Sie berichteten von eigenen Erfahrungen und erarbeiten in Workshops Strategien, den Herausforderungen der Radikalisierung zu begegnen.
Reine Information schreckt nicht ab
„Extremismus ist im Alltag ein brennendes Thema“, betonte Martin Althoff, Geschäftsführer der IBP – Interkulturelle Begegnungsprojekte der Alexianer. „Wir müssen uns vor Augen führen, dass die reine Information über Gefahren niemanden abschreckt.“ Stattdessen gehe es darum, alle Lebensbereiche zu erfassen und zu analysieren, warum extremistische Gruppen die einzelnen Personen auffangen.
Der Zugang zu Bildung für alle und eine Pädagogik, die jeden erreiche, seien ein guter Schutz, erklärte Althoff. Er sehe es als Aufgabe pädagogischer Fachkräfte in Schule und Zivilgesellschaft, Multiplikatoren-Netzwerke aufzubauen und Menschen Anlaufstellen zu bieten, an die sie sich niederschwellig wenden können. „Ich wünsche mir, dass sich der Fokus verschiebt: Weg vom Kampf gegen die Social-Media-Plattformen hin zu einem Kampf für den einzelnen Menschen, auch bezogen auf den Umgang mit diesen Plattformen und den Gefahren“, sagte Althoff.
Attraktivität ideologischer Angebote nachempfinden
Nachzuempfinden, was extreme ideologische Angebote für die einzelne Person attraktiv macht, ist Althoff zufolge eine wichtige Grundlage für eine pädagogische und präventive Begegnung des Phänomens. Fritz Bender, Systemberater Extremismusprävention für den Kreis Coesfeld, ermutigte die Teilnehmenden der Tagung, sich selbst mit Tiktok und Co. vertraut zu machen.
„Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Wie komme ich in die Lücke, in der der oder die Jugendliche an den extremistischen Tendenzen zweifelt?“, erklärte Bender. „Gehe ich nicht auf die Person und ihre Bedürfnisse ein, sucht sie woanders Antworten. Das Gesprächsangebot haben wir in der Hand. Es ist eine wichtige Möglichkeit, Zugang zu finden“, ergänzte das Team der Wegweiser, ein innovatives Präventionsprogramm des Landes Nordrhein-Westfalen gegen Islamismus und in den Kreisen Borken und Coesfeld ein Kooperationsprojekt zwischen den Partnern Alexianer IBP und der Pari Sozial Münsterland GmbH.
Lebenskompetenzen und psychische Widerstandkraft stärken
Der Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe und Anerkennung durch andere, Protest gegen Ungerechtigkeit oder auch Diskriminierungserfahrungen und fehlende Perspektiven analysierten die Experten als mögliche Ursachen eine Radikalisierung. Verlockend sei für junge Menschen die Perspektive, an einem „Kampf für Gerechtigkeit“ mitwirken zu können, Sinn und Identität zu erfahren oder durch strikte Regeln eine klare Orientierung zu erhalten. Althoff: „Unser Auftrag ist es, die Lebenskompetenzen und die psychische Widerstandkraft dieser Menschen zu stärken, damit sie sich nicht radikalisieren und im Extremismus keine Antworten finden.“