Alex Talk - EOS-Klinikchef Dr. Markus Pawelzik erläuterte die Psychologie eines grundlegenden Gefühls"
Wir brauchen die Scham, denn sich schämen macht in vielerlei Hinsicht Sinn!" Diese Erkenntnis war ein Fazit von Dr. Markus Pawelzik, der rund 100 Zuhörern beim Alex Talk die Facetten, Hintergründe und auch Fehlentwicklungen des Schamgefühls erläuterte.
"Grundsätzlich markiert die Scham die emotionalen Leitplanken auf der Autobahn unseres Lebens", veranschaulichte der Ärztliche Direktor der EOS-Klinik Münster die Funktion des sozial antrainierten und gesellschaftlich unerlässlichen Gefühls.
Es soll uns auf Kurs halten und idealerweise bewegen wir uns auf der Mitte dieser Autobahn: "Denn wir leben eingebettet in ein System von Normen und unsere Scham markiert dabei die subjektiven Grenzen des Erlaubten", verdeutlichte der EOS-Klinikchef.Doch wer schämt sich überhaupt wofür und warum tun wir das? Die Dimensionen reichen laut Pawelzik vom eigenen Schämen für die eigene Person oder Handlung bis hin zum Schämen für jemand anderen wie zum Beispiel dem Sohn, der einen Ladendiebstahl begangen hat.
Auch das Schämen für eine ganze Gruppe, wenn etwa der geliebte Fußballverein eine große Niederlage erleidet, sei ein häufiges Phänomen. Pawelzik: "Immer, wenn ich meine eigene Norm einem anderen überstülpe, sprechen wir vom so genannten Fremdschämen".
Wie sich das hautnah anfühlt, konnten die Anwesenden an diesem Abend bei einem Filmausschnitt aus der Sendung "Deutschland sucht den Superstar" erleben, bei der eine Kandidatin ganz bewusst öffentlich vorgeführt wurde. "Diese und ähnliche Tendenzen der Vermarktung unserer ureigenen Gefühle gehen komplett in die falsche Richtung", appellierte Pawelzik zur stetigen Wachsamkeit auf die Grenzen der Scham.
Auch die Randbereiche auf der Schamskala von der krankhaften Scham bis hin zur verletzenden Schamlosigkeit erläuterte der Experte anhand anschaulicher Beispiele: "Korrupte Eliten wie etwa die vom jüngsten VW-Skandal oder ein US-Präsident, die sich auf unverschämte Weise unserem Regel- und Wertesystem entkoppeln sind besonders negative Beispiele, wie Schamlosigkeit leider auch durchaus zu Erfolgen führen kann".
Hingegen schämten sich andere allein schon dafür, sie selbst zu sein: "Sie fühlen sich grundsätzlich nicht richtig", dies sei etwa klassisch bei essgestörten Menschen feststellbar und die Kehrseite von übertriebener Scham. Auch bei den von schädlicher Scham betroffenen Menschen habe der "soziale Spiegel" nicht funktioniert. Schon in der Kindheit komme daher der Förderung des Mentalisierens und damit der Fähigkeit, eigene und andere Gedanken- und Gefühlsvorgänge zu hinterfragen als Grundbedingung der Selbstreflektion eine Schlüsselrolle zu: "Denn die Anforderungen an unsere Kinder, sich in verschiedenen Rollen zurecht zu finden, steigen. Zugleich aber schrumpfe das elterliche Investment und oft schlichtweg die Zeit, die Kinder hierfür adäquat stark zu machen", verdeutlichte Pawelzik ein gesellschaftliches Dilemma unserer Zeit.
Gleichzeitig würden unsere Kinder häufig zu Vehikeln der eigenen Selbstverwirklichung mit zu viel Lob und wenig Kritik, so dass aufgeblähte, unrealistische Selbstbilder zunehmend als Folge heutiger Sozialisationsbedingungen erkennbar würden: "Und solche Kinder entwickeln sich dann eben oft auch zu den schamloseren Mitmenschen."
Doch wie können wir in puncto Schamgefühl den idealen Weg ausloten? Pawelzik: Wir müssen lernen, unsere Schambereitschaft, Identitätspolitik und sozialen Beziehungen in ein lebbares Gleichgewicht zu bringen. Dabei tragen wir alle auch Verantwortung für die Gestaltung unserer Schamkultur!"